Lieferketten sind wie Dominosteine – ein Stoß, und alles fällt.
Was lange als Meisterleistung der Effizienz gefeiert wurde, hat sich zur Achillesferse globaler Unternehmen entwickelt. Spätestens seit ein einziger Frachter den Suezkanal blockierte und Zölle über Nacht ganze Geschäftsmodelle infrage stellen, ist klar: Lineare Lieferketten sind zu fragil für eine nichtlineare Welt.
Und doch klammern sich viele Unternehmen an die alte Logik: Kontrolle, Prognosen, Planbarkeit. Als ließe sich Unsicherheit einfach ignorieren.
Die Wahrheit ist: Unsere Realität hat sich verändert – aber unsere Liefermodelle nicht.
Wer heute über Resilienz spricht, muss über Netzwerke sprechen. Nicht über Notfallpläne oder Lagerpuffer, sondern über Strukturen, die sich in Echtzeit neu konfigurieren können. Philips, der niederländische multinationale Konzern, hat genau das getan – und damit bewiesen, dass Zukunftsfähigkeit nicht in der Zentrale entsteht, sondern in der Verbindung der Teile.

Pionier Philips: Resilienz durch Netzwerkdenken neu erfinden
Philips hat im letzten Jahrzehnt einen kritischen Wendepunkt erlebt. Das Erdbeben in Japan 2011, die weltweite COVID-19-Pandemie und die Blockade des Suezkanals haben die Schwächen des global verteilten und auf Effizienz ausgerichteten Liefermodells offengelegt. Zu diesen Schwachstellen kommt nun mit der aktuellen Eskalation der Zölle auf den Weltmärkten eine weitere hinzu. Es wird deutlich, dass die Abhängigkeit von der Beschaffung aus einem einzigen Land zu einer strategischen Belastung geworden ist und keine Vorteile mehr aufweist.
Als Reaktion auf diese Ereignisse begann Philips, von einem zentralisierten Just-in-Time-Modell zu einem dezentralisierten Lieferantennetzwerk überzugehen. Der Schwerpunkt dieses Netzwerks liegt auf Agilität, Redundanz und Transparenz.
Zu den Kernelementen dieser Transformation zählten:

- Multiple-Sourcing-Strategien, um die Abhängigkeit von Einzellieferanten bzw. Regionen mit hohen Zöllen zu reduzieren
- Der Aufbau regionaler Versorgungszentren in Europa, Nordamerika und Asien, um die Produktion zu lokalisieren und das Risiko von Lieferunterbrechungen zu minimieren. Damit werden auch zollintensive grenzüberschreitende Warenströme vermieden
- Investitionen in digitale Plattformen, die im gesamten Lieferökosystem für Transparenz und Koordination in Echtzeit sorgen
- Die Einführung eingebauter Redundanzen − nicht nur bei den Lagerbeständen, sondern auch bei den strategischen Partnerschaften und Fertigungsoptionen
Dies war nicht nur eine logistische Umstellung − es war eine tiefgreifende Veränderung der Art und Weise, wie Philips Resilienz verstand. Dem Unternehmen ging es nicht darum, sich auf die nächste Disruption vorzubereiten. Es wollte ein System werden, das in der Lage war, sich laufend anzupassen, neu zu konfigurieren und auf neue Gegebenheiten flexibel zu reagieren.
Warum es funktioniert hat: Lektionen aus der Netzwerkwissenschaft
Was diesen Wandel bei Philips so lehrreich macht, ist seine klare Übereinstimmung mit den Prinzipien der Netzwerkforschung. Dieses neue Forschungsfeld bietet tiefe Erkenntnisse darüber, wie komplexe Systeme gedeihen und sich anpassen − oder warum sie scheitern.
Im Wesentlichen untersucht die Netzwerkwissenschaft, wie miteinander verbundene Knoten (seien es Menschen, Lieferanten, Datenpunkte oder Technologien) das Verhalten und die Resilienz des größeren Systems beeinflussen.
Dieser Effekt lässt sich aus der Perspektive des Philips-Kontextes verstehen:
- Dezentralisierung: In traditionellen Lieferketten kann eine Störung an einem einzigen kritischen Punkt (z.B. ein Lieferant oder eine Produktionsstätte) das gesamte System lahmlegen. Das verteilte Liefermodell von Philips spiegelt dezentralisierte Netzwerke wider. Dank dieser Dezentralisierung lassen sich Ströme umleiten und der Betrieb aufrechterhalten, selbst wenn Teile des Systems unter Druck geraten.
- Redundanz und alternative Pfade: Die Netzwerktheorie betont die Bedeutung redundanter Verbindungen. Diese Verbindungen helfen nicht nur, Disruptionen wie Pandemien oder Hafenschließungen zu überstehen. Sie ermöglichen es Unternehmen auch, neue Hindernisse wie plötzlich verhängte Zölle oder Embargos dynamisch zu umgehen. Unter Kostengesichtspunkten mag Redundanz ineffizient erscheinen; für den Aufbau von Resilienz ist sie jedoch unerlässlich. Die Multiple-Sourcing-Strategie von Philips hat alternative Wege für Kontinuität geschaffen – ein klassisches Merkmal resilienter Netzwerke.
- Modularität: Philips hat seine Versorgungsarchitektur durch die Regionalisierung von Versorgungszentren modular aufgebaut. Auf diese Weise wird die Ausbreitung von Disruptionen begrenzt und bestimmte Regionen können bei Bedarf halb-unabhängig arbeiten. Dieses Konzept spiegelt wider, wie biologische und soziale Netzwerke lokale Schocks bewältigen, ohne dass das Gesamtsystem zusammenbricht.
- Kurze Wege und schnelle Signalausbreitung: Die Entfernung zwischen den Knoten eines Netzwerks ist von großer Bedeutung. Mithilfe digitaler Visibility Tools konnte Philips die „Pfadlänge“ zwischen Störsignalen und Entscheidungen verkürzen. Dadurch wurden schnellere Reaktionen möglich. Der Informationsfluss in einem Netzwerk muss rasch und zuverlässig sein. Genau das ermöglichte die neue digitale Ebene.
- Knotenzentralität und strategische Positionierung: Die Netzwerkforschung zeigt, dass nicht alle Knoten von gleicher Bedeutung sind: Einige haben eine höhere „Zentralität“, was sie einflussreicher macht. Philips hat seine Lieferantenbeziehungen neu bewertet und engere Beziehungen zu strategischen Partnern aufgebaut – d.h. zu denjenigen Lieferanten, die für sein Geschäft am wichtigsten sind, um eine engere Zusammenarbeit und Abstimmung zu gewährleisten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Philips nicht nur seine Lieferkette optimiert hat: Das Unternehmen hat sich selbst zu einem lebendigen Netzwerk umstrukturiert, das in der Lage ist, sich dynamisch an Krisen anzupassen. Die Logik hinter diesem Wandel ist nicht nur intuitiv. Sie ist wissenschaftlich fundiert.
Meine Überzeugung: Network Leadership ist das fehlende Glied
Im Laufe der Jahre habe ich mit etlichen Organisationen zusammengearbeitet, die eine Umgestaltung durchführten − von europäischen Herstellern bis hin zu globalen Dienstleistungsunternehmen. Dabei habe ich ein immer wiederkehrendes Hindernis beobachtet: Allzu oft halten Führungskräfte an linearem Denken in einer nichtlinearen Welt fest.
Selbst wenn der Wunsch nach Resilienz klar ist, scheitert die Umsetzung. Warum? Weil die Führungspraktiken mit der neuen Logik nicht Schritt gehalten haben. Man kann ein Netzwerk nicht mit einer Befehls- und Kontrollmentalität führen. Was wir brauchen, ist Network Leadership − die Fähigkeit, Einfluss über Verbindungen statt durch Kontrolle auszuüben. Sie ermöglicht es einer Führungskraft, sich sowohl durch die Peripherie als auch durch das Zentrum hindurchzufühlen. Schließlich fördert dies Strukturen, in denen sich Autonomie und Vertrauen zur Erreichung gemeinsamer Ziele (shared purpose) entfalten.
In einer Initiative, an der ich kürzlich beteiligt war, half ich einem japanisch-europäischen Industriekonzern, die Entscheidungsfindung in den von ihm übernommenen Fabriken zu dezentralisieren. Der Durchbruch kam nicht durch eine neue Prozesslandkarte, sondern durch den Aufbau von Beziehungen zwischen den Fabriken (den Knotenpunkten im Netz). Menschen, die nie zuvor zusammengearbeitet hatten, begannen, Probleme gemeinsam zu lösen – ein klarer Beleg für die Kraft der Netzwerkdynamik in Aktion.
Führung im Zeitalter der Komplexität bedeutet, Strukturen für Emergenz zu schaffen. Die Bedingungen für die Entstehung von Intelligenz aus dem System heraus können nicht durch Direktiven von oben geschaffen werden. Die wirksamen Bedingungen für kollektive Intelligenz werden erst durch das vernetzte System selbst geschaffen.
Fazit: Resilienz ist kein Zufall – sie ist Führungsaufgabe
Die Geschichte von Philips ist mehr als ein Einzelfall. Sie ist ein Weckruf für Führungskräfte, die sich noch immer auf das Prinzip der Kontrolle verlassen, während um sie herum ganze Systeme kippen.
Denn die nächste Disruption ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. Und Unternehmen, die dann noch auf starre Ketten setzen, werden im globalen Wettbewerb zurückfallen. Die gute Nachricht: Resilienz lässt sich gestalten. Nicht durch mehr Kontrolle, sondern durch bessere Verbindungen.
Network Leadership bedeutet: Einfluss entsteht nicht durch Machtzentren, sondern durch Beziehungen. Entscheidungen fließen nicht von oben nach unten, sondern kreisen durch ein System, das auf Vertrauen, Autonomie und gemeinsamer Zielorientierung basiert.
Jetzt ist der Moment, um umzudenken. Nicht, weil es modern klingt – sondern weil die Realität es verlangt.
Wer heute Netzwerke aufbaut, ist morgen nicht nur vorbereitet – sondern einen Schritt voraus.
Zum Autor: Jeffrey Beeson ist Experte für Netzwerkwissenschaften und Autor von Network Leadership (Cambridge University Press, 2024). Der Strategie- und Führungskräfteberater war weltweit für McKinsey und Bain & Company tätig. Als ehemaliger Vorstand der International Leadership Association begleitet er heute Unternehmen von starren Hierarchien zu agilen Netzwerkorganisationen.
Nähere Informationen:
https://networkleadership.eu/de/
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