In einer dynamischen Arbeitswelt sind Führungskräfte gefordert, neue Wege zu finden. Das norwegische Führungsmodell Tight Loose Tight, entwickelt von dem agilen Innovator Rune Ulvnes, bietet eine Antwort auf komplexe Fragen. Es steht für die richtige Balance zwischen klarem Rahmen und notwendiger Flexibilität. So soll die Kreativität und Eigenverantwortung der Mitarbeitenden gefördert werden.
Prinzipien des Tight Loose Tight Modells
Tight Loose Tight ist überall dort geeignet, wo eine Führungskraft mit ihrem Team vor Herausforderungen steht, deren Lösungsweg noch nicht klar vorgezeichnet ist. Ob es Marketingkampagnen, Fachkräftegewinnung oder Produktoptimierungen sind: Hier gibt es keinen klaren “so machen wir es und dann gelingt es”-Weg. Das Motto “so haben wir es doch immer gemacht” ist hinfällig, denn die Gegenwart lässt sich nicht mit der Vergangenheit vergleichen. Das bedeutet für eine Führungskraft, die sprichwörtliche Hose runterlassen, denn trotz jahrelanger Berufs- und Führungserfahrung gibt es keine Erfolgsgarantie für die eigenen Ansätze. Sich diesem unangenehmen Gefühl zu stellen, mag nicht immer einfach sein. Viele Führungskräfte empfinden es jedoch als Entlastung, wenn die Schwarmintelligenz des Teams nicht nur zu guten Ideen führt, sondern auch zu höherer Motivation.
Das Tight Loose Tight-Modell im Detail
1. Tight (Klares Festlegen und Brainstorming)
In der ersten Phase des Modells ist es entscheidend, das zu lösende Problem klar zu definieren. Führungskräfte und Teams arbeiten gemeinsam daran, das Problem umfassend zu verstehen und alle relevanten Faktoren zu identifizieren. Hierbei geht es nicht nur um eine oberflächliche Analyse, sondern um eine tiefgehende Auseinandersetzung mit den Herausforderungen.
- Problemdefinition: Der erste Schritt besteht darin, das Problem präzise zu beschreiben. Was sind die Kernfragen, die gelöst werden müssen? Welche externen und internen Faktoren spielen eine Rolle?
- Rahmenbedingungen festlegen: Neben Stakeholderinteressen, möglichen gesetzlichen Vorgaben gehören auch Budget und der Zeitrahmen zu den relevanten Rahmenbedingungen. Dies sorgt dafür, dass die kreative Arbeit in eine sinnvolle Richtung gelenkt wird und die Mitarbeitenden nicht im Unklaren agieren.
- Erfahrungswerte: Auch wenn es neue Ideen braucht, sind Erfahrungen relevant. Was bereits einmal funktioniert hat, kann möglicherweise auch hier in abgewandelter Form Anwendung finden, denn das Rad muss nicht immer komplett neu erfunden werden. Dazu gehören auch Dinge, die bereits ausprobiert wurden und nicht zur Lösung geführt haben.
- Hypothesenbildung: Auf Basis der Problemanalyse entwickeln Führungskräfte zusammen mit ihrem Team in einem Brainstormingformat Hypothesen, die mögliche Ansätze zur Lösung darstellen. Diese Hypothesen dienen als Leitfaden für die nachfolgende kreative Phase und sollten flexibel genug sein, um während des Prozesses angepasst oder verworfen zu werden.
- Entscheidung: Im letzten Schritt entscheidet das Team gemeinsam mit der Führungskraft, welche Hypothesen in der nachfolgenden Loose-Phase verfolgt werden. Hierbei geht es um Kriterien wie schneller Überprüfbarkeit oder Wahrscheinlichkeit des Gelingens. Auch wird die Dauer der Loose-Phase festgelegt – sie kann von wenigen Stunden bis zu mehreren Wochen dauern – je nach Problemstellung und Hypothesenauswahl.
2. Loose (Kreative Testphase)
Nach der Abstimmung in der Tight-Besprechung folgt die Loose-Phase, in der Mitarbeitende Autonomie erhalten, um die entwickelten Hypothesen zu testen und hierfür kreative Lösungen zu erarbeiten. Diese Phase ist entscheidend für die Innovationskraft eines Teams.
- Autonomie und Entscheidungsfreiheit: Während der Loose-Phase dürfen die Mitarbeitenden eigenständig arbeiten und Entscheidungen in dem besprochenen Rahmen treffen. Diese Freiheit fördert kreatives Denken und ermöglicht es dem Team, unkonventionelle Lösungsansätze zu verfolgen. Das Team entscheidet selber über Rollenzuweisungen und Arbeitsschritte.
- Eigenverantwortung: Die Verantwortung für die Arbeitsergebnisse liegt nun beim Team. Dies fördert ein stärkeres Engagement und ein Gefühl der Zugehörigkeit. Mitarbeitende erkennen den direkten Einfluss ihrer Arbeit auf den Erfolg des Projekts.
3. Tight (Reflexion und strategische Anpassung)
In der nächsten Tight-Besprechung reflektiert das Team gemeinsam mit der Führungskraft über die bisherigen Erkenntnisse. Diese Reflexion ist entscheidend für die kontinuierliche Weiterentwicklung und Anpassung der Lösungsansätze.
- Überprüfung der Hypothesen: Basierend auf den während der Loose-Phase gewonnenen Erfahrungen überprüft das Team, welche Hypothesen zutreffend waren und welche nicht. Diese Analyse hilft dabei, die getroffenen Entscheidungen und deren Auswirkungen auf das Problem zu verstehen.
- Reflexion über das Gelernte: Gemeinsam wird über das, was gut funktioniert hat und was nicht, nachgedacht. Diese Reflexion vertieft das Verständnis für das Problem und mögliche Lösungen und trägt dazu bei, die Teamdynamik zu stärken.
- Anpassungsplanung: Auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse wird der Ausgangspunkt überprüft und gegebenenfalls angepasst. Dies kann bedeuten, dass neue Hypothesen formuliert oder alternative Lösungsansätze erkundet werden.
- Vorbereitung der nächsten Loose-Phase: Auf Basis der Erkenntnisse wird die nächste Loose-Phase geplant, die Hypothesen weiterentwickelt. Es ergibt sich eine Folge aus Tight-Besprechungen und Loose-Phasen.
Durch diese Vorgehensweise kristallisiert sich ein Lösungsweg heraus, der gemeinsam zwischen Führungskraft und Team entwickelt wird. Viele unterschiedliche Perspektiven werden einbezogen und stärken daher das Gefühl der gemeinsamen Verantwortung.

Vorteile von Tight Loose Tight
Das Tight Loose Tight-Modell bringt zahlreiche Vorteile mit sich, die sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende in ihrer täglichen Arbeit unterstützen:
- Förderung von Eigenverantwortung: Mitarbeitende fühlen sich stärker in den Entscheidungsprozess eingebunden und sind motivierter, aktiv zum Unternehmenserfolg beizutragen. Dies stärkt das Gefühl der Selbstwirksamkeit und der Zugehörigkeit.
- Erhöhung der Innovationskraft: Durch den Freiraum in der Loose-Phase können Teams kreativ denken und unkonventionelle Lösungen entwickeln. Dies ist insbesondere in Branchen wichtig, die ständig mit Veränderungen konfrontiert sind.
- Stärkung der Kommunikation: Regelmäßige Reflexionen und Tight-Meetings fördern den Austausch im Team und schaffen eine offene Feedback-Kultur, in der jeder gehört wird und sich wertgeschätzt fühlt.
- Flexibilität: In Zeiten der Unsicherheit ermöglicht das Modell eine schnelle Anpassung an neue Gegebenheiten und Herausforderungen. Teams können schnell auf Veränderungen reagieren und ihre Strategien entsprechend anpassen.
- Reduzierung von Mikromanagement: Durch die klare Struktur und die Einbeziehung des Teams in den Entscheidungsprozess wird das Risiko des Mikromanagements verringert. Führungskräfte können sich auf strategische Aufgaben konzentrieren, während das Team eigenverantwortlich arbeitet.
Herausforderungen bei der Umsetzung
Trotz der zahlreichen Vorteile bringt das Modell auch Herausforderungen mit sich:
- Loslassen lernen: Führungskräfte müssen lernen, Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden zu setzen und loszulassen. Dies kann besonders für Manager, die an einen autoritären Führungsstil gewöhnt sind, eine große Herausforderung darstellen.
- Klare Kommunikation: Eine klare Kommunikation ist entscheidend, um Missverständnisse zu vermeiden und sicherzustellen, dass alle im Team auf dasselbe Ziel hinarbeiten. Führungskräfte müssen in der Lage sein, ihre Erwartungen klar zu formulieren und gleichzeitig Raum für kreative Ideen zu lassen.
- Kontinuierliche Reflexion: Um den Tight Loose Tight-Prozess erfolgreich umzusetzen, ist eine ständige Reflexion notwendig. Führungskräfte müssen bereit sein, ihre eigenen Ansätze zu hinterfragen und anzupassen.
Je nach Ausgangslage kann dies bedeuten, dass Führungskräfte geschult und begleitet werden sollten.
- Training für Führungskräfte: Investieren Sie in Schulungen, die Führungskräfte auf den Tight Loose Tight-Ansatz vorbereiten. Diese Schulungen sollten sich auf die Entwicklung von Fähigkeiten zur Delegation, Kommunikation und Feedback konzentrieren.
- Mentoring-Programme: Implementieren Sie Mentoring-Programme, in denen erfahrene Führungskräfte ihre Kenntnisse über den Tight Loose Tight-Ansatz an weniger erfahrene Kolleg:innen weitergeben können.
- Erfolge sichtbar machen: Teilen Sie Erfolge, die durch die Anwendung des Tight Loose Tight-Modells erzielt wurden, um andere Führungskräfte und Teams zu inspirieren. Erfolgsbeispiele können helfen, die Akzeptanz des Modells zu erhöhen.
Für wen eignet sich das Modell?
Tight Loose Tight eignet sich sowohl für kleine als auch große Unternehmen. So war der Grammy-nominierte Musikproduzent Chris Kalla, der unter anderem Titel für Kendrick Lamar, Alicia Keys, Drake und Tim Bendzko produziert hat, der Tight Loose Tight in seiner Musikproduktionsfirma PLYGRND einsetzt. Obwohl überzeugt von dem Modell, musste sich Kalla persönlichen Herausforderungen stellen. Wer selber mit der eigenen Arbeit so erfolgreich war, muss erst lernen zu vertrauen und loszulassen. Kalla geht dabei aufs Ganze: Er nutzt Tight Loose Tight nicht nur in der Führung, sondern bereits in Stellenausschreibungen sowie im Recruiting Prozess. So geht er sicher, dass er Mitarbeitende gewinnt, die Lust auf kreativen Freiraum und Flexibilität haben, was mit großer Verantwortung einhergeht.
Die SÜDKURIER Medienhaus GmbH aus Konstanz setzt als regionales Verlagshaus ebenfalls auf Tight Loose Tight. Stefan Lutz, Chefredakteur, hat das norwegische Führungsmodell zur Chefsache erklärt und nicht nur in die eigene Ausbildung investiert: Die gesamte Führungsmannschaft sowie das interne Organisationsentwicklungsteam sind in Tight Loose Tight geschult. Durch Austauschrunden, Peergroups und internes Mentoring stellen sie sicher, dass das Gelernte in Anwendung bleibt. Mit Erfolg: Interne Umfragen belegen, dass die Zufriedenheit der Mitarbeitenden zugenommen hat. Die Angestellten berichten von einer anderen Haltung ihrer Führungskräfte, sie selber werden mehr eingebunden und können mehr Verantwortung übernehmen.
Fazit
Das Tight Loose Tight-Modell ist ein effektiver Ansatz für moderne Führungskräfte, die in einer komplexen und dynamischen Arbeitswelt bestehen wollen. Es verbindet Struktur mit Flexibilität und fördert ein Arbeitsumfeld, in dem Mitarbeitende sich entfalten und aktiv zur Lösung von Problemen beitragen können. In einer Zeit, in der traditionelle Führungsstile oft nicht mehr ausreichen, bietet Tight Loose Tight eine zukunftsweisende Alternative, die sowohl Führungskräfte als auch Mitarbeitende in ihrer Entwicklung unterstützt.
Die Anwendung des Tight Loose Tight-Modells in hierarchischen Strukturen erfordert eine bewusste Anpassung an die bestehenden Gegebenheiten. Indem klare Kommunikation, Partizipation, Eigenverantwortung, regelmäßige Reflexion und Schulungen gefördert werden, können Führungskräfte auch in traditionellen Organisationen ein agiles und innovatives Arbeitsumfeld schaffen. Dies stärkt nicht nur die Motivation der Mitarbeitenden, sondern verbessert auch die Gesamtleistung des Unternehmens.
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