Der Mensch ist ein enorm paradoxes Wesen. Die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zum Nachdenken über Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart eröffnen Dimensionen, die keinem anderen Wesen auf der Erde zur Verfügung stehen. Gleichzeitig verheddern wir uns immer öfter in genau diesen Dimensionen und entfernen uns von uns und unserem Leben. Es gibt Momente im Leben, da sollte man besonders achtsam und im Moment verweilen. In dieser Kolumne skizziere ich, was ich konkret meine.
Mein Gott, wäre ich gern ein Hund
Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich ein absoluter Hundenarr bin. Das Faszinierende an Hunden ist nicht nur ihre unermüdliche Freude – sofern sie nicht hungrig oder krank sind – sondern ihre außergewöhnliche Fähigkeit, im Moment zu leben. Im Regelfall sind sie zutraulich und happy, wenn sie in Gesellschaft ihrer Herrchen sind. Natürlich erinnert sich ein Hund an die Vergangenheit, hoffentlich an wichtige Elemente der Hundeerziehung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass kein Hund sich hinsetzt und über die Vergangenheit sinniert. Er wird vermutlich nicht vergangenen Knochen hinterhertrauern oder verpassten Spielchancen. Vermutlich entwickelt ein Hund auch keine Zukunftsszenarien, wo er den nächsten Knochen vergraben wird. Ein Hund kann sich nicht einmal sicher sein, ob es jemals überhaupt wieder einen Knochen geben wird. Er kennt kein Konzept der Vergangenheit oder Zukunft – er lebt einfach im Moment. Das fand ich bei Hunden schon immer bewundernswert. Kinder haben diese Fähigkeit auch, bis wir Erwachsenen sie ihnen abtrainieren.
Konsum von Konzerten
Konzerte finde ich fantastisch. Für meine Lieblingsbands reise ich schonmal in andere Länder, wie erst kürzlich für die Smashing Pumpkins, die ich in Birmingham live erleben durfte. Was mir dabei immer wieder auffällt, ist, dass viele Menschen es verlernt haben, im Moment zu leben und diesen Moment zu genießen. Wir machen das genaue Gegenteil – wir sind zwar beim Konzert, zücken jedoch das eigene Smartphone, um ja jede Millisekunde des Konzerts aufzunehmen. Es ist da Gegenkonzept zum Hundeleben. Paradoxerweise verpasst man genau dadurch den Grund, weshalb man überhaupt zum Konzert ging. Darüber kann eine millionenfach wiederholte Aufnahme des Abklatsches der Realität auch nicht hinweghelfen. Egal wie gut die Aufnahme auch ist – sie kann NIEMALS mit dem Original mithalten. Solche Menschen agieren tatsächlich paradox. Sie gehen zu einem Live-Konzert, ohne es vollinhaltlich miterleben zu wollen. Wenn man darüber nachdenkt – einfach irre.
Die Angst, den Moment nicht festhalten zu können
Getrieben durch die Möglichkeiten der Technik, wird all das erst möglich. Dahinter steckt höchstwahrscheinlich die Angst, den gegenwärtigen Moment nicht festhalten, nicht für die Ewigkeit konservieren zu können. Doch die Qualität eines Moments wird gerade durch seine Unwiderbringlichkeit, durch seine „Nicht-Wiederholung“ erst kostbar. Vielleicht sind Hunde doch klüger als viele Menschen, weil sie den Wert des Moments kennen. Und natürlich kein Smartphone bedienen können.
Durch meine jüngste Tochter bin ich viel am Spielplatz. Auch dort versuchen Eltern, jeden Moment des Kindes auf Foto oder Video bannen zu wollen und verpassen dadurch den eigentlichen Moment. Wer schaut am Ende des Tages tausende von Fotos oder Videos durch, frage ich mich. Es ist eine wahre Sammelwut an Informationen geworden, an Datenmüll, den wir täglich sammeln. An den wir uns klammern, während die Momente an uns vorbeirauschen.
Es gibt Momente im Leben…
Ich selbst bin, allein aufgrund beruflicher Orientierung, ein Heavy-User von Smartphone, KI und Co. Immer öfter jedoch lege ich mein Smartphone zur Seite, um in die Realität eintauchen zu können. Egal, ob das Konzerte, Zeit mit meinen Kindern oder Zeit mit meiner Partnerin ist. Vollinhaltliches Eintauchen in den Moment bedeutet nun mal, nichts festhalten zu wollen, sich an nichts zu klammern, was sowieso nicht festgehalten werden kann.
Letzten Endes ist der Moment auch nur ein Fraktal unseres Lebens. Endlich. Und kann nicht festgehalten oder konserviert werden. Nur die Illusion davon. Wer will schon in einer Illusion leben? Hunde sicherlich nicht….
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